Freiheitsfreunde müssten diese – und viele andere Fragen – eigentlich verbieten. So lese ich es in einem Artikel von Reinhard K. Sprenger*. Einmal mehr lasse ich mich vom oft als deutscher Management-Guru titulierten Führungsexperten und Autor irritieren oder gar provozieren.

Gefragt sein

Wir sind gefragt wie noch nie: Als Bürger in Meinungsumfragen. Als Konsumenten zu Zufriedenheitsbewertungen. Als Mitarbeitende in Beurteilungsgesprächen und Betriebsumfragen. Als Internet-Benutzer auf jeder zweiten Seite zum Einverständnis für Datenschutz, zu allgemeinen Geschäftsbedingungen und zu kurzem Feedback. Beim Vorstellungsgespräch zu meinem bisherigen und geplanten Leben. Wir sind gefragt – sehr oft ungefragt.

Antworten lügen

Die Bedeutung von Fragen habe ich in vielen Weiterbildungen und in der Praxis kennen gelernt. Als Projektleiter, als Führungsperson, als HR Consultant, als Coach, als Berater. Sie sollen zum Denken anregen. Sie eröffnen andere Perspektiven. Sie führen zu neuen Einsichten und Erkenntnissen. Und wer fragt, der führt.

Und nun diese Provokation von Sprenger: Befragte sagen nicht, sie antworten. Antworten lügen. Nur das, was ein Mensch ungefragt sagt, entspricht seiner Wirklichkeit.

Antwortende unterwerfen sich der Frage und den impliziten Realitätsvorstellungen des Fragenstellers. Fragen zwingen zur Antwort. Einzige Rettung: Schweigen – aber schon das kann als Antwort gedeutet werden. Allenfalls wäre eine Gegenfrage noch ein Ausweg: «Was soll diese Frage?» Aber auch damit lasse ich mich auf das Fragespiel – und viel mehr noch – auf ein Machtspiel zwischen Fragendem und Befragtem ein. Also doch schweigen.

Der Fragen beraubt

Sprenger beraubt damit die Gilde der Coaches ihres wichtigsten Arbeitsinstruments. Nachdem schon Ratschläge zum Tabu erklärt worden sind (denn auch sie sind Schläge), sind nun auch die Fragen fragwürdig.

Was bei mir in Sprengers Erläuterungen wohl am ehesten anklingt, ist die Erklärung, dass Fragen verschleierte Wirklichkeitsvorstellungen der fragenden Person sind und diese sich mit der (meist unbewussten) Verhüllung ihrer unmittelbaren Ver-Antwortung entzieht. Jede Frage gründet letztlich auf Wissen, Erfahrungen, Vorstellungen und Hypothesen aus den Lebenswelten des Fragenden. Denn wo ich nichts weiss, kann ich nichts fragen.

Wie befreie ich mich nun als Coach – oder auch als Führungs- oder Privatperson – aus dieser Enge, wenn weder Raten noch Fragen angebracht sein soll? Wenn ich mir selbst diese Frage so stelle, dann gebe ich mir folgende Antwort: Durch das Gespräch. Im Dialog mit einem unterschiedlichen, aber gleichwertigen Gegenüber. Im Reden lassen – in der Rede und im Zuhören, wo auch das Wechselspiel von Fragen und Antworten durchaus seinen Platz hat. Dialog bedeutet in etwa «das Durchdringen der Worte». Im Dialog durchdringen wir die eigenen Wahrheiten und dringen in andere und vielleicht auch neue Welten vor.

Wenn das Leben fragt

Und wie steht es mit den grossen Fragen, die nicht ein Meinungsforschungsinstitut, eine Vorgesetzte oder ein Berater, sondern das Leben stellt? Denn nach der logotherapeutischen Sinnlehre von Viktor Frankl sind es nicht wir Menschen, die das Leben nach Sinn und Unsinn befragen sollen, sondern wir sind vielmehr die vom Leben Befragten. Also nicht: «Warum hat mir das Leben dieses Un-/Glück beschert?», sondern «Was will mich das Leben mit diesem Un-/Glück fragen?».

Darf das Leben uns solche Fragen stellen? Stellt das Leben überhaupt Fragen? Im Leben werden wir immer wieder mit Gegebenheiten konfrontiert, mit bedeutsamen und unbedeutenden, mit freudigen und traurigen. Als Folgen von eigenem oder fremdem Tun oder Nicht-Tun. Aus Zufall, Schicksal, Fügung, Kausalität. Warum auch immer. Aber es sind Gegebenheiten und keine Fragen. Die Fragen konstruieren wir Menschen und verhüllen darin unsere eigenen Vorstellungen, Ängste, Wünsche und Hoffnungen zum Leben.

Und so verstehe ich diese Lebensereignisse – auch im Lichte von Frankls Sinnlehre – nicht als Fragen des Lebens (an mich oder an die Menschheit), sondern je nach dem als mehr oder weniger dringliche Anlässe, selbst nach den relevanten Fragen zu suchen, die ich mir in dieser Gegebenheit stellen sollte. Und zwar nicht primär im Sinne von: «Warum ist es so weit gekommen?», sondern lebenssinngestalterisch: «Was soll, muss, will, kann ich nun tun?», «Was ist mir nun besonders wichtig?», «Welche Freiheiten habe ich jetzt?», «Wie kann ich mein Leben selbst ver-antworten?».

Meine persönliche Folgerung aus Sprengers Provokation:
Trau keiner Frage, die du dir nicht selber stellst!

Autor: Hannes Rhiner, hannes.rhiner@visias.ch

Bildnachweis: Emily Morter on Unsplash

* Sprenger, Reinhard K.: Ist Fragen inklusiv? Oftmals ist es genau andersherum: Wer fragt, hat die Macht. Neue Zürcher Zeitung, 12.09.2020 (Link)