Vielleicht antworten Sie: „Hierarchie ist notwendig, um eine Orientierung zu haben! Selbstorganisation endet im Chaos!“; „Mitarbeitende können und wollen nicht selbstorganisiert arbeiten, sie wollen keine Verantwortung übernehmen!“ oder schliesslich; „Natürlich organisiere ich mich täglich selbst bei meiner Arbeit, ich bin schon selbstorganisiert!“ und „Selbstorganisation ist das neue Arbeitsverständnis, wer nicht mitmacht, wird den Anschluss verlieren“.
Die Antworten sind vielfältig und alle zulässig. Das Thema der Selbstorganisation ist umstritten. Die Theorien, die Debatte, die Feldversuche, die positiven und negativen Erfahrungen sind zurzeit vielfältig sichtbar. Schon bei der Definition von Selbstorganisation gibt es unzählige Möglichkeiten, je nach wissenschaftlicher Disziplin und Kontext. Selbstorganisation hat jedenfalls mit Komplexität zu tun und mit einem äusserst anspruchsvollen Kulturwandel in Organisationen.
In diesem Artikel wird versucht, das Thema der Selbstorganisation greifbarer zu machen und von verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Zudem erfahren Sie, was direkt Betroffene denken. Interviews, die wir durchgeführt haben, geben Aufschluss über zentrale Aspekte in einem Change Prozesse „zu mehr Selbstorganisation“.
Selbstorganisation als Strukturprinzip der Organisation, warum jetzt?
VUCA ist in diesem Kontext ein wichtiger Begriff. Er bedeutet kurz zusammengefasst: die zunehmende Veränderungsgeschwindigkeit (Volatility), die Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit (Uncertainty) von Entwicklungen, die Vielschichtigkeit (Complexity) zukünftiger Problemstellungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die Mehrdeutigkeit (Ambiguity) durch die Vielfalt von Menschen, Arbeitsmodellen, Denkweisen und Lösungsmöglichkeiten.
Dieses Zukunftskonzept kommt wie viele Managementtheorien aus den USA und prognostiziert den Unternehmen, den Märkten, der Umwelt und der Menschheit eine eher düstere Zukunft mit grossen Herausforderungen. VUCA ist erst wenige Jahre in aller Munde, spätestens seit Corona können wir uns gut mit diesen Prognosen identifizieren.
VUCA fordert Organisationen heraus und bringt sie dazu, neue Organisationsmodelle und -strukturen zu prüfen und die damit verbundenen und empfohlenen Lösungsansätzen wie Agilität, Selbstorganisation, Resilienz usw. anzuwenden.
Vielfältige Problemlösung auf struktureller Ebene im Testverfahren
Der steigende Transformationsbedarf wird in vielen Unternehmen mit «agilen» Strukturen – das heisst mit verbesserten, agilen Prozessabläufen – zu bewältigen versucht. Beliebt ist auch die «flachere Hierarchie», indem Führungsebenen gestrichen werden. Beide Lösungen können möglicherweise helfen, die Zukunft gut oder besser zu meistern. Gerade mit flacheren Hierarchien spart man zumindest Geld, denn die Einführung bzw. Streichung von Hierarchietufen geht relativ schnell. Den Teams und Mitarbeitenden wird dann gesagt: «Jetzt dürft ihr euch selbst organisieren, eure Chefs sind weg!». Ohne diesen die nötigen Hilfsmittel, Lernmöglichkeiten oder Unterstützungen zu bieten, kann das nicht funktionieren. Überforderung und Widerstand sind die Konsequenz.
Soziokratie, Holokratie, transformationale Führung oder kollegiale Führung sind weitere konkretere Lösungsansätze, die Gesamtkonzepte anbieten und damit Hilfsmittel zur Verfügung stellen für eine Transformation. Diese Konzepte der Selbstorganisation sind strukturell und meist auch kulturell gedacht und zeigen einen ganzheitlichen Ansatz. Im Gegenzug finden sich Methoden wie Scrum oder Design Thinking, welche den Fokus ausschliesslich auf ein agileres Prozessmanagement legen. Hier fehlt das ganzheitliche Denken und die zwei organisationalen Aspekte (Aufbau- und Ablaufstrukturen) werden unscharf differenziert und fälschlicherweise auch gleichgesetzt. Werden nicht nur Prozesse, sondern auch die Aufbaustrukturen (Hierarchie, Linie, Funktion) für mehr Selbstorganisation angepasst, geht es um eine grundlegend neue Ausrichtung, verbunden mit einer neuen Haltung, wie Organisationen und Arbeit gestaltet werden sollen.
Wer ist dafür, wer dagegen?
Mehrheitlich interessieren sich Unternehmen mit starkem Marktdruck und volatilen Kundenbedürfnissen für Selbstorganisation. Sie brauchen mehr Agilität im Kampf um Marktanteile. Sie wollen schneller und innovativer sein. Der Erfolg des Unternehmens steht im Zentrum. Im Nonprofit- Bereich oder im Sozialbereich ist das Interesse für die Selbstorganisation gekoppelt an das Motiv der stärkeren Menschenorientierung. Das sind sehr unterschiedliche Motive für mehr Selbstorganisation, und es lohnt sich als Mitarbeitende/r nachzufragen, was das Motiv und der Nutzen einer entsprechenden Transformation zu mehr Selbstorganisation sein soll.
Die Skepsis gegenüber dem Modell der Selbstorganisation kommt mehrheitlich von Seiten der «älteren» Generation, den Traditionalisten, den Baby Boomern und teilweise der X-Generation. Sie haben die eigene Arbeitswelt hauptsächlich hierarchisch und gekoppelt an einen hohen Leistungsanspruch mit Belohnungsprinzipien erlebt. Für diese Generationen ist es schwieriger vorstellbar, dass Selbstorganisation funktionieren kann. Oftmals prägen Missverständnisse, unzulässige Vergleiche mit Basisdemokratie oder kommunistischen Prinzipien deren Argumentation.
Die «jungen» Generationen (Y/Z), welche von klein auf zu mehr Eigenverantwortung, Selbstreflexion und Selbstbestimmung erzogen wurden, haben andere Erwartungen an Arbeitgeber*innen und die Zusammenarbeit in Teams. Sie sind irritiert, wenn sie Topdown-Befehle erhalten und nicht nach ihrer Meinung gefragt werden. So kann davon ausgegangen werden, dass sie den Trend zur Selbstorganisation beschleunigen.
Welche Entwicklungstheorien stehen dahinter?
Verschiedene Theorien und Entwicklungsverständnisse haben in den letzten Jahren an Bekanntheit zugenommen. Am meisten durchgesetzt hat sich der in «Reinventing Organizations» beschriebene Ansatz von Frederic Laloux. Er hat es geschafft, das Konzept so zu verpacken, dass es in der Wirtschaft Akzeptanz findet. Sein Verständnis ist abgeleitet aus anderen Modellen wie bspw. den Entwicklungsphasen der Organisation (F. Glasl) oder den Ebenen der Meme von Spiral Dynamics (D. Beck). Diese Theorien zeigen eine gesellschaftliche Werte-Entwicklung auf, die Organisationen, die Menschen und ihre Zusammenarbeit mitbestimmen. Sie bieten eine «Logik», warum wir heute die Selbstorganisation als Arbeitsprinzip ins Zentrum rücken.
Was sagen Betroffene in einem Change Projekt zu mehr Selbstorganisation?
Anhand einer qualitativen Forschungsarbeit mit Hilfe von Expert*innen-Interviews haben wir (Katharina Alföldi und Marianne Alpstäg, Organisationsberaterinnen) Einblick in die konkrete Praxis erhalten. Unser Ziel war es zu erfahren, wie es Betroffenen in einer Veränderung zu mehr Selbstorganisation geht und wie sie den Change-Prozess erleben.
Die qualitativen Interviews wurden mit acht Expert*innen durchgeführt und gemäss einem qualitativen Forschungsdesign ausgewertet. Nachstehend finden Sie die wichtigsten Ergebnisse als kurze Zusammenfassung. Interessieren Sie sich für die gesamten Ergebnisse, stellen wir Ihnen gern die gesamte Dokumentation zur Verfügung.
Welche Motive haben die Organisationen, das Management?
Anhand des Modells von F. Laloux haben wir die Expert*innen gefragt, was ihre Motive für mehr Selbstorganisation sind (linke Grafik Werteebenen Reinventing Organizations, rechte Grafik Motive der befragten Experten verteilt auf die Ebenen.
Hier zeigt sich, dass die Motive fokussiert sind auf Erfolgsorientierung, Menschenorientierung und Synergie/Integral-Orientierung, wenngleich die Expert*innen deren Gewichtung in ihren Organisationen unterschiedlich erleben.
Welche Voraussetzungen sind notwendig für eine gelingende Selbstorganisation?
- Klarheit, wer wo mitreden darf, das heisst eine transparente Struktur
- Vertrauen, Eigenverantwortung und Eigeninitiative der Beteiligten
- Strategische Anbindung
- Menschen, die sich einbringen und sich zurücknehmen können und wollen
Welche positiven Auswirkungen hat Selbstorganisation?
- Höhere Zufriedenheit, Motivation und Engagement der Mitarbeitenden
- Rollen können entwickelt und vergeben werden
- Kleine und effiziente Abstimmungen sind laufend möglich
- Verantwortung kann nicht mehr abgeschoben oder delegiert werden
- Ein höheres Commitment für das gemeinsame Ziel
Welche negativen Aspekte hat Selbstorganisation?
- Höhere Transparenz und Eigenverantwortung fällt einigen Beteiligten schwer
- Schnelligkeit ist nicht selbstverständlich eine Auswirkung, zu Beginn wurden wir langsamer
- Teamzusammenhalt ist nicht mehr gross
- Es gibt praktisch keine Lohn-/Karriereentwicklung mehr
- Man bricht mit Führungstraditionen, Macht abgeben ist sehr anspruchsvoll
Welche Formen des Widerstands haben sich gezeigt?
- Es gibt Widerstand, wenn die Struktur (Kreise/Rollen) noch nicht klar definiert ist.
- Keine Verantwortung übernehmen wollen, lieber ein/e «normale/r» Angestellte/r sein
- Es braucht viel eigene Disziplin, das ist eine Herausforderung
- Beteiligte können sich nicht mit dem Sinn und Nutzen identifizieren
- Die Betroffenen können sich nicht vorstellen, wie es sein wird, mit mehr Selbstorganisation zu arbeiten
Welche Verbesserungsvorschläge machen die Betroffenen?
- Mehr über Macht diskutieren, denn Selbstorganisation heisst, dass Macht, Kompetenzen und die Verfügungsmöglichkeiten im Kollektiv entschieden werden
- Die Bedeutung der Kulturveränderung hoch gewichten, denn die «Enthierarchisierung» ist ein tiefgreifender Changeprozess
- Eine Grundhaltung, das den Menschen als Ganzes sieht, nicht nur als Arbeitskraft
- Die Fähigkeit zur Selbstreflexion muss geschult, Instrumente müssen installiert werden
- Parallelität verschiedener Organisationsformen (hierarchisch klassisch/agil selbstorganisiert) erschweren eine Umsetzung zu mehr Selbstorganisation
Fazit aus Sicht der professionellen Organisationsberatung
Die Ergebnisse der Interviews zeigen deutlich auf, dass es sich bei einer Veränderung zu mehr Selbstorganisation um einen grundlegenden Paradigmenwechsel handelt. Umso wichtiger ist eine evolutionäre Herangehensweise. Die Anziehungskraft der Selbstorganisation ist zwar sehr gross, gleichzeitig wird die Veränderbarkeit von Menschen und Organisationen überschätzt. Solche grundlegenden Haltungs- und Verhaltensänderungen, wie sie in Bezug auf Selbstorganisation nötig sind, passieren nicht von heute auf morgen und man kann sie nicht verordnen.
Die Entwicklung zu mehr Selbstorganisation braucht ein kompetent gesteuertes und prozessorientiertes Vorgehen. Kurzfristige Implementierungen von neuen Strukturen, ohne Berücksichtigung der Voraussetzungen der Organisation und ohne Kulturarbeit, werden nicht nachhaltig wirken. Zu empfehlen ist somit ein achtsames, geduldiges und konsequent evolutionäres Vorgehen.
Autorin: Marianne Alpstäg, marianne.alpstaeg@visias.ch
Quellen und empfohlene Literatur:
- Glasl F. und Lievegoed B. (2016): Dynamische Unternehmensentwicklung (Entwicklungsphasen der Organisation), 5. Auflage, Hauptverlag
- Laloux Frederic. (2015): Reinventing Organizations, 1. Auflage, Vahlen Verlag
- E. Beck, C. Cowen. (2007): Spiral-Dynamics, 1. Auflage deutsch, Deutsche Bibliothek
- Glasl Friedrich, Kachler Trude, Piber Hannes (2020): Professionelle Prozessberatung, 4. Auflage, Hauptverlag, Freies Geistesleben
- Sackmann Sonja (2017): Unternehmenskultur: Erkennen – Entwickeln – Verändern. 2. Auflage. Springer/Gabler Verlag